Irgendwann, vor vielen Jahren, nahm ein lokaler Journalist hier in Zürich die Herausforderung an, von Zürich nach Basel zu wandern. Ich denke, es war Max Küng. Natürlich war dies für Herrn Küng ein grosses Abenteuer, er war tagelang unterwegs, übernachtete in allerlei Gasthöfen und genoss die gutbürgerliche Landküche.
Bald hatte er hässliche Blasen an seinen Füssen oder die Wanderstiefel sassen nicht mehr wirklich bequem. Immerhin goss er seine abenteuerliche Wanderung in eine Reportage, das ist sein Beruf. Inzwischen hat er die Strecke auch mit dem Fahrrad absolviert. Je nach gewählter Route beträgt die Distanz ungefähr 100 - 130 km. Was Herr Küng kann, sollte ich auch noch irgendwie schaffen.
Als UL-Wandernder kann ich von Luxus-Übernachtungen in edlen Gasthöfen nur träumen. Erstens pflege ich das hierzu notwendige Budget für Ausrüstung zu verbraten und zweitens fehlt mir die Zeit. Ich habe genau ein Wochenende, da mich wirtschaftliche Überlegungen dazu zwingen, unter der Woche Geld zu verdienen. Leider habe ich immer noch niemanden mit der Kontoweite einer Alison Taylor S. getroffen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, aber nur zu Hause zu sitzen ist auch keine Lösung.
Nun denn, ich habe diese Strecke auch schon mehrfach am Stück ohne längere Pausen gewandert. Seit der Rückkehr aus den USA Ende 2022 jedoch nicht mehr. Immerhin habe ich es mehrfach versucht. Oftmals spielte mir das Wetter einen Streich. Ohne Not übernachte ich nicht mehr bei Minus-Graden und Regen in einem sumpfigen Schweizer Mittelland Wald. Solche Dinge spare ich mir für andere Gelegenheiten und spektakulärere Landstriche auf. Ich packe trotzdem mein Dipole ein, für eine kurze Pause.
Neue Poles habe ich auch, von wegen Budget verbraten. Um 4 Uhr morgens geht es auch schon los. Ich muss um diese Zeit aufstehen, sonst reicht es zeitlich einfach nicht. Ich kenne mich. Wenn ich ausschlafe, den Rucksack packe und loslaufe ist es bereits 14:00 Uhr bevor ich aus dem Haus gehe. Also brav die Elektronik am Tag zuvor geladen und alles gepackt. Dank meiner Erwerbsarbeit habe ich sogar genug Kohle, um in bestes Essen zu investieren. Ein Gamechanger ist beispielsweise die Verfügbarkeit von Sourpatch Kids hier im Detailhandel. Von der Hochqualitätsfirma Modelez. Die haben auch Köstlichkeiten wie Clif
, Cadbury und Milka im Angebot. Sie haben sogar eigens eine Niederlassung in der Schweiz. Snacking made right, ohne traue ich mich nicht mehr auf die Trails. Dagegen schmeck Haribo nach gar nichts. Einen Kaffee mit echter Kuhmilch und schon geht es los.
Von meiner bescheidenen Wohnung aus habe ich fünf Minuten zu Fuss an die Hardbrücke. Es gibt dort einen Bahnhof, einige Sportsfreunde kommen aus dem Ausgang zurück. Die Polizei ist auf Zack. Interessiert mich alles herzlich wenig. Mein Ziel ist die Limmat. Infolge Bauarbeiten schleiche ich mich durch einen Hinterhof auf den entsprechenden Weg. Dann geht es erstmal stundenlang der Limmat entlang nach Baden. Die Limmat wird gerne als grünes Band angepriesen, Verkehrsbegleitgrün trifft es besser. Die Autobahn oftmals hart am Ohr geht es erstaunlich rasch vorwärts. Die Durston Poles sind aufgrund ihrer Leichtigkeit gewöhnungsbedürftig, mit einiger Erleichterung nehme ich zur Kenntnis, dass wenigstens nichts vibriert oder klappert. Die Schlaufen vermisse ich nicht und die Griffe sind erstaunlich bequem.
In Baden ist Strassenmarkt, die Grünen werben für die Umweltverantwortungsinitiative. Laut Umfragen stehen die Chancen nicht besonders gut. Den Schweizweit bekanntesten Grünen aus Baden kann ich jedoch nirgendwo erblicken. Er wollte einer Bekanntschaft ein Selfie senden, erlitt jedoch zur Unzeit eine Wardrobe-Malfunction, dadurch verschob sich unglücklicherweise der Bildausschnitt. Aus dem Parlament trat er freiwillig zurück. Ich kenne viele unter 30jährige, die es problemlos schaffen, bei einem Badezimmer-Selfie genau das zu fotografieren, was sie gerade möchten und nichts anderes. Wie auch immer, in Baden muss ich zur Burgruine hinauf und komme bald darauf an einem Quartierladen vorbei. Natürlich gibt es ein Schokolade-Erzeugnis der Firma Dubler. Kühle Energydrinks gibts zum Glück auch anderswo. Schade, dieser Laden war immer eine willkommene Quelle mitten in einem blöden Aufstieg.
Heiter geht es weiter, die Sonne scheint, mein Alpha Pullover tut was er soll. Natürlich gab es bei Highttail Design nur noch die Farbe Orange. Ich sehe wahrscheinlich schon ein wenig seltsam aus. Mir egal. Nach Brugg drehe ich ab in Richtung Kaisten, nahe an einem Scheibenstand vorbei. Es wird gerade mit Pistole und Sturmgewehr geschossen. Besser hier als in der Nacht im Wald.
Noch vor Kaisten muss ich an einem einsamen Haus vorbei. Ein Hund läuft frei herum und hat etwas gegen mich. Es gibt genug Zeit, um den Pfefferspray in die Hand zu nehmen. Der Hund muss auch schon hier und da eine Tracht Prügel eingesteckt haben. Ich zeige ihm meine Poles, dies scheint ihn abzuschrecken. Nach einiger Zeit hört auch seine Besitzerin sein einfältiges Gekläffe und nach einer ganzen Serie von Pfiffen zieht er endlich ab. Ich muss aber am Haus vorbei. Kein Problem, als die Besitzerin meinen Pfefferspray sieht, zerrt sie ihre Karma (so heisst das blöde Vieh offenbar) zu sich heran, am Halsband, wie auch sonst.
Sie und ihr Begleiter grüssen freundlich, als ich an ihnen vorbei gehe. Ich drehe nicht mal meinen Kopf. Ihr Begleiter wird sogar frech, er grüsst mich extra noch einmal und sagt dann laut: "So ein Schafseckel, es macht mich hässig". Ich drehe mich um und sage nur "Sie, ihr Hund". Er mault irgendwas weiter. Warum habe ich keine Partnerin mit den Fähigkeiten einer Dakota Lili-Joa "Dangerous" Ditcheva? Ich halte ihren Sport für sinnlos brutal und abstossend, aber sie hätte diesem alten Wutbürger wirklich kräftig auf die Schnauze gehauen. Verdient hätte er es allemal.
Weiter geht es, ich habe keine Zeit mich lange aufzuregen. Das nächste Problem: Jemand fährt mit seinem Cross-Motorrad quer durch den Wald. Ganz sicher sehr legal. Als er mich kommen sieht, wendet er sein Motorrad und fährt davon. Weshalb habe ich keine Crew, die solche Frevler stoppen kann?
Auf dem Weg nach Kaisten beschliesse ich spontan, in einem Restaurant einzukehren. Es ist abends gegen 20 Uhr, ich bin seit fünf Uhr morgens unterwegs. Wahrscheinlich rieche ich nicht mehr ganz taufrisch. Die erste Schenke sieht wenig einlandend aus: Es ist Fondue-Abend. Beim besten Willen nicht. Zwei Strassen-Kreuzungen weiter gibt es eine Pizzeria. Sie haben auch Cordon-Bleu im Angebot. Es ist eine echte Land-Schankstube. An der Wand hängt die Fahne der Feldschützen, das halbe Dorf ist hier.
Ich setze mich an einen Tisch etwas abseits und bestelle. Das Restaurant ist Schweiz pur. Während sich die Schweizer und verwandte Orte sich die Pizzen in den Mund stopfen und mit Bier grosszügig nachspülen, arbeiten drei Männer wirklich hart daran, alle zufrieden zu stellen. Ich vermute, es sind Syrer. Ein Vater mit seinen zwei ca. 30jährigen Söhnen. Gross gewachsene athletische Männer, die ununterbrochen durch die Gaststube wirbeln.
Ein älterer Herr am Nebentisch staucht seine Frau zusammen, sie solle nicht ständig solchen Unsinn erzählen. Bis ich den Kopf drehe und ihn fragend ansehe. Zehn Minuten später und 40 Franken ärmer (nicht besonders viel hier) mache ich mich auf den Weg an den Rhein. Wir sind in der Schweiz, es gibt auch Ausserorts einen Fahrradweg und eine Spur für die Fussgänger. Ich wandere noch ein ganzes Stück weiter, in tiefster Nacht.
Irgendwann komme ich in Stein am Rhein an. Es gibt nur ein Problem: Ich komme fast nicht mehr vorwärts. Zeit, das Nachtlager aufzuschlagen. Bloss wo? Ich gehe an den Bahnhof, danach hat es ein wenig Wald. Ich finde eine flaches Plätzchen und stelle mein Zelt auf. Kaum habe ich mich hingelegt, beginnt es auch schon zu regnen. Die Bäume knacken im Wind, gemütlich ist anders. Nicht weit von meinem Platz entfernt ist eine Jagd im Gange. Es müssen ein halbes Dutzend Jäger sein, immer wieder dröhnt ihr Geknalle durch den Wald, sie benutzen Schrotflinten. Die ganze Nacht lang. Ich überlege ernsthaft, meine Lampe auf rot und in den Blinkmodus zu stellen. Mein Katabatic Quilt hält mich wunderbar warm, natürlich bin ich zu faul, um die Befestigung an der Matte einzurichten. Ich habe sowohl die Leinen als auch die Riemen dabei. Egal, morgens um 6 Uhr habe ich genug.
Jemand hat versucht, den Getränke Automaten am Bahnhof aufzubrechen. Ohne Erfolg, aber es reichte um ihn ausser Betrieb zu setzen. Zum Glück gibt es nebenan einen zweiten. Ein grosses RedBull und eines dieser neumodischen Vitaminwasser sowie 8 Franken später bin ich ausreichend hydriert und aufgeputscht. Es geht nun stundenlang dem Rhein entlang. Kaffe gibt es erst in Rheinfelden.
Es gibt schon wieder nur ein kleines Problem: Mein linkes Fussgelenk schmerzt. Wahrscheinlich Überbelastung, warum wohl. Auch dagegen bin ich jedoch gewappnet. Ich habe sogar Irfen Tabletten mit einem ganzen Gramm Wirkstoff dabei. In meiner langen Hikingkarriere habe ich sowas nur einmal genommen. Danach hatte ich eine Woche lang keine Schmerzen mehr. Vorerst begnüge ich mich mit 250 Milligramm.
Der Rheinhafen in Birsfelden ist offen. Und dann plötzlich nicht mehr. Kein Grund zur Panik. Über allerlei Abschrankungen geht es zum Wald hinüber, dem Bahndamm entlang und dann nach Basel hinein. Ich habe es geschafft und bin nur ein kleines bisschen Stolz auf mich. Das Fussgelenk schmerzt noch eine ganze Woche lang nach.