1. Teilabschnitt Hemavan - Vuoggatjålme (Camp Polcirkeln)
Wir nehmen Bus und Bahn von Stockholm aus. Wir das sind Jule, Emmi (Namen geändert) und meine Wenigkeit. Jule, eine Deutsche, wusste von Anfang an, dass sie nur zwei Wochen Zeit hat, Emmi, Schwedin, wollte mich eigentlich die gesamte Tour begleiten. Dazu später mehr. Je näher wir an Hemavan herankommen, desto mehr Regen wird es. Wir steigen kurz nach Mittag aus dem Bus und stellen kollektiv fest, dass wir bei dem Wetter absolut keinen Bock auf Wandern haben. Also erstmal ins Shopping Center und was essen. Emmi kauft sich auch noch ein Merino-Oberteil im Sportgeschäft. Warum nicht?!
Mit vollem Bauch ist die Stimmung deutlich besser und der Regen hat auch nachgelassen. Von hier aus geht es jetzt dann doch notgedrungen erst einmal auf den Kungsleden.
Am offiziellen Start-Tor wiegen wir nochmal unsere Rucksäcke, was zu einer guten Mischung aus Schock, Unverständnis und Gelächter führt. Es hilft ja nix! Wir haben jeweils für 9 Tage Essen dabei, das erklärt vielleicht die Verzweiflung. Denn wer den Kungsleden kennt, der weiss, es geht erstmal ordentlich bergauf. Typischerweise ist der Rucksack da am schwersten, die eigene Form weit entfernt von "Top" und allgemeine läuft die ganze Maschinerie noch nicht so richtig.
Angepeilt ist kurz nach der Viterskalstuga zu zelten, dort wo der Pfad hoch auf den Syter abzweigt. Da steht nämlich praktischerweise auch ein Toilettenhäuschen. Und so kommt es denn auch, wir verbringen die erste Nacht dort bei grauem Wetter und mäßigem Wind.
Ein erster Praxistest den Jule mit einer Yoga-Session am Morgen versüßt. Dabei fällt uns eine ältere Frau auf, die mehrmals zwischen Toilette und Trail hin- und herrrennt. Wir lernen sie kurz darauf in der nächsten Schutzhütte kennen, nennen wir sie Inge, und wandern so erstmal zu viert weiter. Sie ist auch Deutsche, wohnt aber seit Jahrzehnten irgendwo bei Luleå. Sie ist Ärztin und hat einen scheinbar unerschöpflichen Vorrat an lustigen Geschichten. Sie ist eigentlich Bikepackerin, aber aufgrund einer Verletzung jetzt zu Fuss unterwegs. Sie mag es nicht, aber "was soll's"? Als wir am Tärnasjö ankommen, muss ich mit Entsetzen feststellen, dass sie gerade dabei sind, die wunderschönen, geschwungenen, hölzernen Hängebrücken durch olle Metallbrücken zu ersetzen. Kein Geld?
Wir zelten kurz vor der Tärnasjöstuga, direkt am See. Besonders lustig ist das Gebaren von Inge, die uns lang und breit erklärt, dass ihr Zelt ja zwei Apsiden hätte und eine davon fürs Pullern reserviert ist. Und so testet sie jeden potentiellen Platz auf optimale Pullerbarkeit indem sie in der Hocke im Kreis springt. Ein Bild für Götter.
Am nächsten Morgen müssen wir uns aber schon von Inge verabschieden, sie folgt weiterhin dem Kungsleden, während wir an den Stugorna dem markierten Weg nordwärts Richtung Vindelälven folgen. Es fängt an zu Regnen und binnen kurzer Zeit sind wir nass bis auf die Knochen. Ich lerne meine neuen Schuhe zu hassen, weil sie zwar aus Leder sind aber dort wo die Zunge wäre nur so eine Art dicke Socke haben und das Regenwasser einfach geradewegs direkt in den Schuh läuft. Gut durchdacht! Unterwegs kommen wir an einer alten Sami-Kåta vorbei und machen dort kurz Mittagspause. Angesichts der vorherrschenden Mäuseplage würde sich ein längerer Aufenthalt auch nicht wirklich anbieten. Wir ziehen weiter, vorbei an der Skidbäckstuga, trocknen dort kurz Ausrüstung und zelten letztlich kurz vorm Vindelälv in der Nähe des Stuor Duhkiejávrrie. Der nächste Tag führt uns zunächst vorbei an einer weiteren Hütte, in der gerade ein Trupp Jäger haust, die auf ihren Helikopter warten. Echte Naturburschen also! Jule ist begeistert von deren "Jagdtrophäen" (ich glaube nicht, dass die überhaupt was erwischt haben). Weiter geht es nach Vindelkroken, ein Sameby, wo man sich auch Hütten mieten könnte. Kurz vorher treffen wir noch eine Frau mit Hund aus anderer Richtung kommend, die dort mehrere Wochen zugebracht hat. Ansonsten herrscht dort tote Hose, wir brauchen ein Weilchen, bis wir endlich die Rasthütte finden, entscheiden uns aber nur kurz zu bleiben und noch ein bisschen weiterzulaufen. Wir folgen einem ATV-Pfad in westlicher Richtung und queren schließlich die norwegische Grenze. Kurz dahinter zelten wir direkt an einem kleinen See. Mittlerweile plagt mich eine schmerzhaft entzündete Blase, die wohl dank der ständig nassen Füße entstanden ist, die gegen das Leder scheuern. Blasenpflaster halten auch keine bei all der Nässe. Aber ich bin nicht der einzige mit Problemen. Bei Emmi entwickelt sich eine plantar fasciitis und Jule erfreut sich einer wachsenden Archillessehnenentzündung. "Kein Problem, bin ich gewöhnt!", soweit so schlecht.
Es geht vorbei an den norwegischen Virvasshütten und nun wieder Richtung Norden. Auf halber Strecke steht eine alte, knarzige Hütte. Sie hat eine winzige Tür und steht auf Stelzen. Der Wind pfeift ohne Ende und wir beschließen dort eine ausgiebige Mittagspause abzuhalten. Der Trail in Norwegen ist wie erwartet nicht ganz so gut markiert und gern sumpfig. Wir beschließen den Tag ein paar Kilometer vor dem Beginn des Nasaleden, bevor es für ein kurzes Weilchen auf einer Schotterstraße dahingehen würde. Emmi wollte unbedingt drinnen schlafen, auf der Karte ist etwas eingezeichnet. Allerdings etwas widersprüchlich, denn auf der einen ist es nur ein offenes Shelter, auf der anderen eine richtige Raststuga. Wir lassen deshalb leider einen Class-A Zeltplatz gegen meinen Willen links liegen und machen uns auf die Suche nach dieser Hütte. Letztlich finden wir sie, es ist eine alte verfallene Sami-kåta in mitten eines Sumpfes. Satz mit X. Wir zelten in der Nähe, eingezwängt irgendwie zwischen Sträuchern und Büschen.
Jetzt geht es endlich auf den Nasaleden. Diesen Weg hatte ich auf meiner Karte gesehen, konnte aber kaum etwas dazu in Erfahrung bringen. Das einzige war eine Tourbeschreibung auf ODS (nicht mehr auffindbar). Er wird wohl nicht mehr gepflegt und daher auch kaum beworben. Schon nach ein paar Kilometern auf dem Trail verändert sich die Landschaft rapide. Wo gerade noch alles üppig und grün war, wird es plötzlich sehr karg. Steine und Geröll, soweit das Auge reicht, und schon bald queren wir auch wieder die Grenze zurück nach Schweden. Bald sehen wir auch schon die Warnschilder, über die ich auch schon im Internet gelesen hatte. Längs des Weges findet sich eine alte Silbermine und die Gewässer rings um sind bis heute gesundheitsgefährdend mit Schwermetallen belastet. Etwas südlich der eigentlichen Mine ist eine kleine Rasthütte, welche gleichzeitig als eine Art Minimuseum fungiert und an die unbeschreiblichen Gräuel und Entbehrungen unter denen die Menschen vor ein paar hundert Jahren dort gelebt und gearbeitet haben. Die Mine hatte ihren eigenen Friedhof, um all die Leute zu bestatten, die dort ums Leben kamen. Sie wurde erstmals in der Mitte des 17. Jahrhunderts betrieben. Es arbeiteten dort überwiegend Menschen, die vor die Wahl gestellt worden waren, entweder als Soldaten in den Krieg gegen Dänemark zu ziehen oder aber eben in der Mine zu arbeiten. Da der Betrieb zu viele Tote forderte ging man dazu über eine Schicht auf je drei Monate zu begrenzen. Die dort ansäßigen Samen wurden zwar nicht zur Arbeit in der Mine gezwungen aber wurden verpflichtet mit ihren Rentieren für Logistik und Transport zu sorgen. Viele der Tiere überstanden diese Torturen nicht und so blieb vielen Samen oft nur die Flucht, weil sie all ihre Hab und Gut verloren hatten. Dabei war die Mine nie kommerziell erfolgreich, hat nie wirklich die erhofften Mengen an Silber gefördert und wurde letzten Endes noch von den Dänen erobert. Deprimiert ziehen wir weiter. Die Landschaft ist offen und weit. Wir verlieren den Weg, aber das ist egal. Irgendwo finden wir andere, ältere Markierungen und folgen diesen. Wir übernachten bei recht rauen Verhältnissen zwischen zwei kleinen Seen.
Der nächste Tag beginnt, wie der alte geendet hatte: elegantes, zügiges Wandern im kallfjäll. Schließlich erreichen wir das Smuolevágge. Der Weg führt nördlich davon in gutem Abstand zur Baumgrenze. Die Aussicht kann sich meiner Meinung nach fast mit dem berühmt-berüchtigten Rappadalen messen lassen. Wir machen auf einer Anhöhe Pause und ich bringe es zustande, den Topfständer meines Soto Windmasters zu verlieren. Nicht weil ich ihn benutzt hätte, sondern einfach, weil ich meinen Löffel brauchte und dieser zusammen mit dem Topfständer im Topf war. Der einzige Nachteil dieses Kochers, den ich sonst so gern mag. Aber was hilft es mir, wenn er nun praktisch unbenutzbar war? Leider ändert sich auch der Trail schon bald. Wir tauchen unter die Baumgrenze ab und spätestens ab dort, wo auf der Karte Gebüsch (vide) eingezeichnet sind, verwandelt er sich in die reinste Hölle. Es sind weniger die Weiden als vielmehr die kleinen Birken, die so zäh sind, dass man ihre Äste keinen Millimeter biegen kann, und wenn doch, bekommt man als Folge meistens ordentlich eine gewatscht. Wegmarkierung findet sich keine mehr, der Weg ist komplett überwachsen. Zu allem Übel besteht er aus einer Mischung aus Sumpf, Geröllblöcken und halt eben Büschen, Sträuchern und Bäumchen. Für die ca vier Kilometer zum Gujjávrre brauchen wir gut drei Stunden. Zu allem Übel ist die Hütte voll besetzt, ausserdem stellen wir fest, dass man sie eh im Voraus hätte buchen müssen. Wir zelten ausser Sichtweit untem am See, ist mir eh lieber, aber spätestens jetzt ist bei Emmi die Stimmung am Nullpunkt angekommen. Wir gehen nackt baden und irgendwie sind danach alle wieder happy und frohen Mutes. Und das obwohl es direkt anfängt zu regnen.
Vor dort nehmen wir den Trail weiter östwärts Richtung Silvervägen. Auch hier dominieren Sümpfe, die Landschaft ist in Nebel gehüllt, der ab und an den Blick auf einzelne Seen und Rentiere freigibt. Diese sind scheinbar mindestens so überrascht wie wir, jedesmal wenn sich ein Loch in der Nebelsuppe auftut und es was unerwartetes zu sehen gibt.
Wir erreichen schließlich die Strasse und anstatt nach Vuoggatjålme machen wir uns auf Richtung Camp Polcirceln, da es nur dort eventuell Nachschub an Nahrung gäbe. Ausserdem wollten wir dort auf dem Campingplatz bleiben und uns duschen etc., was man halt so macht. Leider ließ der Shop dort sehr zu wünschen übrig, das größere Problem aber war, dass der Campingplatz nur für RVs gedacht zu sein scheint, es gibt gar kein richtiges Servicegebäude und all die Hütten waren auch ausgebucht. Und so versuchten wir stattdessen nach Jäkkvik zu kommen. Leichter gesagt als getan, der nächste Bus kommt erst in zwei Tagen. Also per Anhalter? Wir stehen zwei Stunden in der Kälte, bis wir aufgeben. Das Personal im Shop war ganz zuckersüß und stand uns die ganze Zeit mit Tipps zur Verfügung und hat sogar versucht privat eine Mitfahrgelegenheit zu besorgen. Leider ohne Erfolg. Und so standen wir immer noch dort an dieser traurigen Kreuzung, bis Jule irgendwann bemerkt "hey, wo kommen denn all die Leute plötzlich her?". Stellt sich heraus, ein deutscher Reisebus war angekommen, auf dem Weg zurück von den Lofoten. Wir erklären kurz unser Dilemma und werden ohne weiteres Wenn und Aber mitgenommen. Im Bus gibt es nur jeden erdenklichen Komfort. Von Tee und Kaffee, bis Wein und Bier, und sogar Cocktails werden angeboten. Von den Snacks gar nicht erst zu reden. Als Entschädigung müssen wir einen Lebensvorrat an Boomerwitzen über uns ergehen lassen. Nun war es jedoch so, dass Jule ohnehin nach Hause musste und Emmi mit ihren Schmerzen im Fuss auch nicht mehr weiterlaufen wollte. Und so stieg ich letztlich alleine in Jäkkvik aus, während die anderen beiden mit bis Arjeplog fuhren um von dort aus den Rest der Heimreise anzutreten. Ich ergatterte mir ein Bett im Kyrkans fjällgård und ratet mal, wen ich dort am übernächsten Tag getroffen habe?